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Erziehung & Förderung

Warum wir unseren Kindern NICHT helfen sollten.

Warum wir unseren Kindern NICHT helfen sollten.

[Bild herzriese Blog]: Warum wir unseren Kindern nicht helfen sollten.

Und was wir stattdessen tun sollten, damit unsere Kinder stark und selbstbewusst durchs Leben gehen.


Ich war gestern mit meinen Kindern seit langem mal wieder auf einem Spielplatz. Es war ein schöner herbstlicher Nachmittag und es waren viele Familien mit ihren Kindern dort. Es wurde gerutscht, geschaukelt, geklettert. Die Eltern unterhielten sich, spielten ab und zu mit ihren Kindern fangen oder gaben einen Schubs beim Schaukeln. Aber eines taten sie ganz besonders oft: Sie ließen die Dinge für ihre Kinder „funktionieren“.

Reflexartiges Helfen


Jedes Mal, wenn ein Kind frustriert war, weil es nicht alleine auf das Klettergerüst kam oder die Sandburg wieder in sich zusammenfiel, kam eine Mutter oder ein Vater herbei und ließ die Dinge wieder für ihr/sein Kind klappen. So hoben sie beispielsweise ihr Kind auf das Klettergerüst hoch oder richteten die Sandburg wieder auf. Dies geschah quasi reflexartig nebenbei, während die Erwachsenen ihre laufenden Gespräche mit anderen Erwachsenen ununterbrochen fortführten. Jeder machte das so. Keinem schien das komisch vorzukommen. Und wieso sollte es auch? “Mein Kind braucht Hilfe, also helfe ich ihm.” Was sollte daran verkehrt sein?

Das Problem mit dem Helfen


Zunächst einmal: An dieser empathisch-hilfsbereiten Haltung ist grundsätzlich gar nichts verkehrt. Im Gegenteil: Die Welt könnte mehr davon gebrauchen. Darin sind wir uns – ob Eltern oder nicht – bestimmt alle einig.

Im Hinblick auf die Reifeentwicklung sowie das Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit – die Grundlage von Resilienz und Selbstwertgefühl, sieht es allerdings etwas anders aus. Lasst mich das näher ausführen:

Es gibt mehrere Eigenschaften, die sich Eltern für ihre Kinder wünschen. Unter anderem wird großer Wert auf Selbstständigkeit und Widerstandsfähigkeit (neudeutsch: Resilienz) gelegt. Die Kinder sollen selbstständig zurechtkommen. Nicht gleich bei den ersten Schwierigkeiten „einknicken“, sondern Widerstände aushalten, kreative Lösungen finden und Herausforderungen erfolgreich meistern können.

Jetzt fragt ihr euch vielleicht, was diese erwünschten Eigenschaften mit der anfänglich beschriebenen Situation auf dem Spielplatz zu tun haben? Nun ja, tatsächlich sehr viel.

Selbstständigkeit entsteht nicht durch Selbstständigkeit


Zunächst zur Selbstständigkeit: Ich bin kein Fan davon, Kinder dazu zu drängen, Dinge alleine zu tun, zu denen sie noch nicht bereit sind. Jedes Kind hat sein eigenes Tempo. Und ein ganz wichtiges Reifeprinzip: 

Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erwächst nicht dadurch, dass man diese erzwingt, also durch “Selbstständigkeitstraining”, sondern aus dem erlebten Überfluss von Nähe, Verbundenheit und Abhängigkeit. Klingt paradox, ist aber das Ergebnis zahlreicher Bindungs- und Entwicklungsforschungen.

Heißt: Da, wo das Kind erlebt, dass es sich abhängig machen darf und sich in einem sicheren “Bindungshafen” weiß,  in dem seine Nähetanks permanent aufgefüllt werden, entsteht gerade NICHT mehr Unselbstständigkeit. Sondern die Lust und Freude, selbstwirksam und eigenständig tätig zu sein. Aufzubrechen, die Welt zu entdecken und seine eigene “Delle ins Universum zu hauen”. 

Da, wo ein Überfluss an Bindung ist und das Kind richtig satt ist, entsteht Selbstständigkeit von ganz allein.

Nun könnte man sagen: “Dann lief doch alles richtig auf dem Spielplatz. Die Eltern haben die Abhängigkeit ihrer Kinder zugelassen, indem sie ihnen geholfen haben.” Doch genau hier liegt der Teufel im Detail.

Ein empathischer Fels in der Frustbrandung


Die oben beschriebene Abhängigkeit, die zur Reife führt und der Überfluss beziehen sich auf die Bindung (die Beziehung), nicht auf das Tun. Seinem Kind zu helfen, kann der Bindung zwar gut tun und ist natürlich auch alltäglicher Bestandteil im Leben mit Heranwachsenden. 

Aber in einer Situation, in der unser Kind seine Fähigkeiten ausprobiert und etwas nicht klappt, ist dieses “Helfen” nicht die beste Wahl. Hier stärken wir die Bindung und eine gesunde Abhängigkeit sehr viel besser und “nebenwirkungsfreier”, indem wir uns emotional, empathisch auf die Seite des Kindes stellen.

Und es liebevoll in seinem Erleben und Scheitern begleiten. Indem wir eine starke, tröstende und verstehende Schulter sind, ein Fels in der Frustbrandung. Unser Kind braucht unsere Geduld für viele weitere eigene Versuche. Unseren Glauben an ihn oder sie. Vielleicht auch mal einen gute Idee, wie es die Dinge anders ausprobieren und angehen kann.

Und vor allem unser Mitgefühl. Besonders dann, wenn etwas nicht funktioniert und auch nach vielen Versuchen vergeblich scheint. Genau dann können und sollten wir mit ihm mitfühlen und ihm das auch ausdrücken. Genau durch diese Begleitung ermöglichen wir ihm einen ganz wunderbaren Prozess: Die Entwicklung von Resilienz.

Die Entstehung von Resilienz


Und damit wären wir bei der zweiten Eigenschaft: Widerstandsfähigkeit. Wenn unser Kind eine Situation erlebt, in der etwas für es nicht klappt – wie beispielsweise das Erklettern eines Klettergerüstes – ist es natürlich darüber frustriert und drückt diese Frustration aus. 

Wenn wir nun unser Kind darin begleiten und seine Gefühle von Trauer oder Wut Raum haben, ausgedrückt zu werden, entsteht etwas ganz Wunderbares: Unser Kind erlebt, dass nicht die Welt zusammenbricht, wenn etwas nicht klappt. Denn Kinder erleben solche Dinge sehr viel intensiver – und dadurch auch dramatischer – als wir Erwachsene.

Wenn es dann erlebt, dass das Leben TROTZDEM weitergeht, reichert sich in der Kinderseele eine Substanz an: eine innere Kraft und Stärke. Und mit ihr eine tiefe Überzeugung, eine Stimme, die das ganze Leben hält und spricht: “Egal, was ich gerade durchmache, ich komme da durch.” 

Je häufiger das Kind solche Situationen erlebt, desto stärker wird diese Überzeugung. In der Folge kann das Kind viel besser und leichter mit Dingen in seinem Leben umgehen, die vergeblich sind oder scheinen. 

Und mit solchen Dingen sind wir unser ganzes Leben lang konfrontiert. Also ist diese innere Stärke, die Resilienz, ein ganz wichtiger und zunehmend kostbarer Schatz. Umso mehr, angesichts der globalen Herausforderungen, mit denen sich die Welt, insbesondere die künftige Welt unserer Kinder, konfrontiert sieht.

Im Umkehrschluss heißt dies aber auch: Wenn wir immer wieder die Dinge für unser Kind “klappen lassen”, verwehren wir ihm diesen kostbaren Prozess. Zumindest in Teilen. 

Aber warum tun wir Eltern das überhaupt so oft?

Keine Lust auf „Theater“


Das liegt im Wesentlichen an drei Dingen: Unwissenheit, fehlende Geduld und keine Lust auf „Theater“.

Auch ich erwische mich trotz dieser generellen Erkenntnis immer wieder dabei, dass ich dazu geneigt bin, Dinge für meine Kinder “klappen zu lassen”. Und wenn ich mich dann im Nachhinein frage, aus welchem Grund, dann sind es häufig genau die beiden oben genannten letzten Aspekte.

Mir fehlt ehrlich gesagt manchmal die Geduld, wenn meine Kinder etwas neu erlernen und dafür viel Zeit brauchen. Besonders dann, wenn ich gerade etwas zu erledigen habe: meine besagte „lange Liste“ im Kopf (die Stammleser/-innen des herzriese-Blogs wissen, wovon ich rede ;).

Oder wenn wir losmüssen und das Schleifebinden alleine noch nicht gut klappt. Oder das Anziehen, oder oder oder. Ich will, dass es schneller geht und gebe meinen Kindern nicht die Zeit, die sie brauchen, um es selbst zu tun.

Und manchmal passt mir auch die Unterbrechung einfach nicht. Wenn ich mich zum Beispiel gerade unterhalte und dies auch weiter tun will. So, wie die Eltern auf dem Spielplatz. Die Frustration meines Kindes stört dann schlichtweg und passt mir gerade nicht rein. Also helfe ich meinem Kind lieber schnell, damit es gar nicht erst wütend oder traurig wird.

Kurzfristig bequem, langfristig Problem


Es ist sehr viel bequemer, wenn unsere Kinder nicht wütend oder traurig über einen gescheiterten Versuch sind. Zudem soll unser Kind ja “glücklich sein” und zum Glücklichsein scheinen Wut und Trauer nicht gut zu passen. Hinzu kommt, dass ein schreiendes, unzufriedenes Kind in unserer Gesellschaft nicht gern gesehen ist und uns Eltern oft schnell unangenehm ist.

All diese Gründe verleiten uns dazu, die Dinge für unser Kind funktionieren zu lassen. Wir glauben, so geht es schneller, einfacher und mit weniger Frustration. Und kurzfristig mag das auch so sein. Doch langfristig entsteht genau das Gegenteil:

Viel mehr Stress, mehr Mühe und auch mehr Frustration. Ganz abgesehen von dem Blockieren der oben beschriebenen kostbaren Reife- und Resilienzprozesse. Denn das Kind fragt dadurch natürlich immer öfter nach Dingen, die es alleine nicht kann – je jünger, umso mehr. Und dann auch oft vehement(er), bis ich ihm zu Hilfe komme. 

Gleichzeitig entsteht im Kind eine Unzufriedenheit, weil es nicht selbstwirksam ist. Denn für ein Kind gibt es kaum etwas Befriedigenderes, als wenn es (“eeendlich!”) etwas aus eigener Kraft schafft.

“Mama, ich hab’s geschafft!”


Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als mein Sohn “endlich” alleine auf den Kletterbaum kam. Ich hatte ihm zuvor bewusst nicht hinauf geholfen, da ich der Überzeugung bin, Kinder sollten auf die Höhen gehen, die sie ohne Hilfe erreichen können. Denn dann haben sie auch das entsprechende Körpergefühl und Bewusstsein für die Höhe, die sie brauchen, um sich dort gut und sicher zu bewegen.

Das war für meinen Sohn natürlich immer mal wieder sehr frustrierend. Aber der Tag, an dem er es “eeendlich!” schaffte, war dafür umso erfüllender für ihn. “Stolz wie Oskar” rief er mir von oben freudestrahlend zu: „Mama, ich hab’s geschafft! Ich bin alleine auf den Baum gekommen!“

Und dieses Erlebnis war mit Abstand das beste der ganzen Woche und wurde jedem erzählt, der in der Nähe war.

Hilf mir, es selbst zu tun.


Ich finde der Grundgedanken der Montessori-Pädagogik hier sehr schön und inspirierend:

“Hilf mir, es selbst zu tun. Zeige mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Hab Geduld, meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger. Vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir Fehler und Anstrengung zu. Denn daraus kann ich lernen.“

In diesem Sinne: Statt unserem Kind dabei zu helfen, es „klappen zu lassen“, lasst uns vielmehr versuchen, unseren Kindern dazu zu verhelfen, es selbst zu tun und zu schaffen.

Und wenn es uns trotzdem mal wieder schwer fällt, weil uns im Hier und jetzt die Geduld fehlt, lasst uns auf die wunderbaren Früchte von Selbstbewusstsein, innerer Stärke und Widerstandskraft schauen, die wir in Zukunft an unseren Kindern werden entdecken und “ernten” werden können. Und die sie ihr ganzes Leben tragen werden.

Denn dafür brauchen unsere Kinder wahrhaftig unsere Hilfe. In diesem Sinne wünsche ich euch und uns allen viel Kraft und Geduld fürs Begleiten im Alltag

Eure Anne

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Anne
Motzkuhn
Anne ist dreifache Mutter, qualifizierte Tagespflegeperson und im bindungsorientierten Entwicklungsansatz des kanadischen Entwicklungspsychologen und Bindungsforschers Prof. Dr. Gordon Neufeld geschult. Durch ihr Engagement in einem gemeinnützigen Schulungszentrum hat sie langjährige Erfahrung in der Jugend- und Seminararbeit. Neben ihrem „Job“ als Mama ist Anne fortwährend dabei, ihr Erfahrungswissen zu vertiefen und zu erweitern – ob durch den Besuch von Fortbildungen, Pikler-Spielgruppen usw. oder durch diverse Seminare oder Bücher. Mit den eigenen sowie den anvertrauten Pflegekindern befindet sich Anne im täglichen „Liveabgleich" von Theorie und Praxis.