Warum unsere Kids immer online sind. Und was daran schlimm sein könnte.
Vor Kurzem erzählte mir eine Freundin von einem Besuch bei ihrer Schwester. Die Tochter ihrer Schwester (ich nenne sie mal Julia) ist 13 Jahre alt. Und wie heutzutage fast alle 13-Jährigen: permanent am Handy. Ok, das kennt man ja.
Was für mich aber neu und besonders kurios war: Julia ist permanent über Videoanruf bei WhatsApp mit ihrer besten Freundin verbunden. Ihr Handy trägt sie überall mit hin und kommentiert immer mal wieder ihre Tätigkeiten ins Handy hinein. So saß sie beispielsweise beim Essen und erzählte ihrer Freundin, was sie gerade aß…um anschließend ihr Handy über ihren Teller zu halten. Als Julia dann mit dem Essen fertig war, sagte sie zu ihrer Freundin, sie gehe jetzt duschen und nehme sie mit. Sie ging ins Badezimmer. Und auch dort legte Julia ihr Handy auf den Schrank und duschte, während ihre Freundin bei sich zu Hause auch irgendeiner Tätigkeit nachging.
Offline – wie geht das?
Nach einiger Zeit ließ sich die Mutter der 13-Jährigen auch mal im Handy blicken. Sie lud die Freundin ein, einfach vorbei zu kommen, wenn sie ja eh den Nachmittag gemeinsam übers Handy verbringen würden. Das tat die Freundin dann auch und erschien nach kurzer Zeit vor der Haustür.
Doch komischerweise hatten die Mädchen nun keine einzige Idee was sie nun gemeinsam tun konnten oder worüber sie eigentlich reden sollten. So vergingen einige Minuten, in denen immer wieder der Begriff „Langeweile“ fiel. Nach kurzer Zeit holte eines der Mädchen ihr Handy hervor und sie lasen sich gemeinsam bei Facebook die neuesten Posts ihrer Freunde durch. So verbrachten sie den ganzen Nachmittag.
Mag sein, dass ich einfach schon zu „oldschool“ dafür bin. Aber ich finde die Vorstellung ziemlich traurig, dass heutzutage die Beziehungen vieler Kids tatsächlich so aussehen. Und das nicht bei wenigen. Der Großteil der sozialen Kontakte neben der Schule findet in sozialen Medien statt.
Bindung goes online
Bereits 2018 stellte die JIM- Studie fest, dass die drei wichtigsten Apps auf den Smartphones der Jugendlichen zwischen 12-19 Jahren WhatsApp, Instagram und Snapchat sind. Also alles Apps für soziale Kontakte. Und – das ist spannend – alles Apps mit einem ganz klaren Fokus und entscheidenden Treiber: Bindung.
Es geht um Beziehung: ums Liken, Befreunden, Connecten, Sharen, virtuelles Abhängen, sehen und gesehen werden. Kurz: die Community. Die Qualität und Form dieser „Freundschaften“ sei mal dahingestellt. Dennoch ist dies das Hauptmotiv dieser SOCIAL Media.
Und dies erklärt, mit einem Blick auf die Bindungspsychologie, auch den enormen Sog und kometenhaften Aufstieg dieser Plattformen: Wir Menschen sind absolute Bindungswesen. Und unser größtes Streben ist daher das Streben nach Nähe, Kontakt und Verbundenheit. Da dieses Streben so unabdingbar und überlebenswichtig ist, treibt es uns an, ob wir wollen oder nicht. Doch es wird, wie wir alle schon leidvoll feststellen mussten, nicht immer erfüllt. Wir können zurückgewiesen und abgelehnt werden. Wir können Enttäuschungen und tiefe Verletzungen in Bindungen und Beziehungen erfahren. Wenn unser Schwarm eine/n andere/n lieber hat. Wenn wir ausgestoßen, ausgelacht oder gemobbt werden. Wenn wir einfach nicht ins Raster passen, nicht so schön, sportlich, cool oder klug sind, wie dies unsere Peer Group erwartet.
Zwischen Sehnsucht und Panzerung
Wenn dies der Fall ist, versucht uns unser Gehirn vor zu großer Verletzlichkeit zu schützen. Es „panzert“ uns emotional ab, um uns zu schützen. Die Folge: Wir versuchen gar nicht erst, eine tiefe Bindung zu anderen Personen aufzubauen, die uns verletzen könnten. Ja, wir versuchen sogar, solche Beziehungen zu vermeiden. Wir binden uns nur noch oberflächlich, ohne viel von uns preis zu geben. Nicht, weil wir das so wollen, sondern aus Angst: Angst vor Ablehnung. Denn die Angst vor Ablehnung ist für uns als Bindungswesen die größte und essenziellste, die wir erleben können. Und je näher uns die Personen standen bzw. stehen, umso tiefere Wunden und größere Panzerungen ruft ihre Ablehnung in uns hervor.
Dies führt dann zu einem Dilemma: Denn einerseits brauchen wir solch tiefe, innige, vertraute Beziehungen wie die Luft zum Atmen. Andererseits fürchten wir sie wie nichts anderes. Und genau dies ist oftmals der Fall bei vielen Kids heutzutage. Und auch die Erklärung für das oben beschriebene Verhalten der 13-Jährigen Julia.
Like my life
Was besonders faszinierend ist: Einerseits teilen die Freundinnen permanent ihr Leben und selbst intime Momente miteinander. Doch wenn sie sich in der realen Welt gegenübersitzen, wissen sie nichts mit sich anzufangen. Oder tauschen nur Banalitäten aus. Genau hieran wird die Krux von Social Media deutlich:
Wir offenbaren uns Menschen in einem Maße, das eigentlich nicht der Beziehungstiefe entspricht, die wir in der Offline-Welt haben. Social Media täuscht uns durch die scheinbare Teilhabe am Leben des anderen eine Vertrautheit vor, die so eigentlich – zumindest oftmals – nicht real existiert. Die „Sicherheitsschranke“ unserer Seele, die uns normalerweise sagt: „Vertraue dich nur Leuten an, die du kennst und die dich wirklich mögen.“ werden ausgehebelt…da ja scheinbar eine tiefe Verbundenheit existiert. Schließlich sehe ich den anderen morgens, mittags, abends, im Bett, im Bad, beim Shoppen etc.
ABER: Ich sehe eben nicht das Leben des anderen, sondern nur ausgewählte, als „nice to share“ bewertete Ausschnitte. Diese werden dann zumeist noch durch den ein oder anderen Instagram-Fotofilter gejagt, bevor sie in der persönlichen „Story“ veröffentlicht werden. Man will sich ja schließlich von seiner besten „authentischen“ Seite zeigen…was sollen sonst die Friends und Follower denken?! Und wenn man sich dann „in echt“ begegnet? Dann hat man sich oftmals nicht viel zu sagen. So wie Julia und ihre Freundin.
Aus der Distanz
Die scheinbar tiefe, intime Freundschaft ist im Kern nur eine Illusion. Denn wir kennen den anderen ja nicht wirklich, sondern nur das, was er/sie über sich postet. Das selektierte, idealisierte „Ich“ des anderen. Die Lücken dazwischen füllen wir dann mit unseren Vorstellungen über den anderen, und so entsteht unsere digitale Social Media „best friendship ever“. Und diesem Wunsch-Avatar aus Selbstdarstellung und eigener Vorstellungskraft vertrauen wir uns dann an. Vor aller Welt. Eigentlich alles mega verletzend. Und warum klappt es trotzdem? Wegen der Distanz.
Anders formuliert: Das Phänomen, das es so vor Social Media noch nicht gab, lautet: Intimität durch Distanz. Nicht „trotz“ Distanz, sondern „wegen“. Denn nur durch die (digitale) Distanz kann ich sicher stellen, dass ich nicht enttarnt werde. Kann ich meine mir unangenehmen oder gar peinlichen Seiten kaschieren. Kann ich meine spontanen Emotionen und Gefühle verbergen, meine Tränen, Enttäuschungen oder Sprachlosigkeiten. Bis ich mich für den nächsten coolen Post oder das stylische Selfie (wahlweise „Duckface“ oder „Fish Gape“) gesammelt habe. Der Screen, das Smartphone oder der Rechner umgeht so unsere intuitive Schutzfunktion und täuscht uns eine Beziehungstiefe vor, die in echt gar nicht existiert. Das Problem nur: Wir öffnen uns mehr, als wir es sonst tun würden. Und das führt wiederum zu neuen Verletzungen und Enttäuschungen, die leicht in noch mehr Panzerung und Distanz münden. Und uns so zunehmend unfähiger für echte, tiefe Herzensbeziehungen machen.
Verbunden bleiben
Der kanadische Bindungsforscher und Entwicklungspsychologe Prof. Dr. Gordon Neufeld hat sechs Bindungsstufen unterschiedlicher Tiefe ausgemacht, auf denen wir Menschen uns binden können. Sofern wir nicht gepanzert sind, denn: Je tiefer wir uns binden, desto verletzlicher machen wir uns in der Beziehung. Je oberflächlicher, desto weniger riskant ist die Beziehung. Aber auch weniger erfüllend. Die erreichte Bindungsstufe definiert also die Art und Qualität unserer Beziehungen.
Interessant hierbei: Die ersten beiden Stufen und oberflächlichste Art und Weise sind die Bindung über die Sinne (also körperlicher Kontakt) sowie über Gleichheit. Erst auf einer tieferen Ebene entsteht, neben anderen Dingen, die Fähigkeit der Verbundenheit trotz räumlicher Trennung.
Da sich die Kids untereinander häufig nicht tiefer binden (können) als über diese zwei Stufen, entsteht in ihnen – neben dem Wunsch, möglichst angepasst zu sein und damit als „normal“ zu gelten – der Drang, beieinander zu sein. Sie müssen sich permanent präsent halten. Denn dann, und nur dann, fühlen sie sich verbunden miteinander, da die tiefere Ebene der Verbundenheit trotz Distanz nicht zur Verfügung steht. Aus diesem Grund entsteht solch eine starke Sucht nach sozialen Medien. Die Kids müssen miteinander rumhängen, wenn sie sich verbunden fühlen wollen. Und wenn das physisch nicht geht oder zu verletzlich ist, dann eben online.
Always on, no escape
Leider bringt das permanente Onlinesein in sozialen Medien eine große Gefahr mit sich. Wie wir alle vermutlich aus eigener Erfahrung wissen, ist die Umgebung von Gleichaltrigen sehr verletzlich. Der Schulhof zum Beispiel kann eine absolut verletzliche Umgebung sein. Das war schon immer so.
Der Unterschied zu heute ist allerdings, dass noch bis vor 15 Jahren die Kids nach der Schule nach Hause kamen und ihre Panzerungen, die sie am Vormittag in der verletzlichen Umgebung gebraucht hatten, runterfahren konnten und wieder „weich“ werden konnten (je nach Elternhaus besser oder schlechter).
Das können die digitalen Kids heutzutage nicht mehr. Es geht schon direkt auf dem Nachhauseweg oder spätestens zu Hause weiter mit dem Kontakt zu Gleichaltrigen und damit mit der verletzlichen Umgebung: auf Snapchat, Instagram, WhatsApp oder sonst wo. Die letzte Nachricht wird kurz vor Mitternacht verschickt. Und am nächsten Tag geht es mit der ersten Nachricht um 7:00 Uhr wieder los. Nonstop. Ohne Pause. Ohne die Möglichkeit, kurz durchzuatmen, verletzliche Gefühle zuzulassen und sich mal fallen zu lassen. Im Gegenteil: Im Netz bläst den Teenagern oftmals ein besonders eisiger Wind in Form von Verbalattacken, Entwürdigungen oder allerlei Perversitäten ins Gesicht. Und das vor aller Welt und ohne jeglichen Schutz oder positive Einflussnahme von vertrauten Erwachsenen.
Da braucht man meiner Meinung nach nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Panzerungen unserer Kids, und damit die innere Härte, immer mehr zunimmt.
Digitale Mündigkeit
Was heißt das nun: Alles verbieten? Aus meiner Sicht kontraproduktiv und wenig aussichtsreich. Alles boykottieren? Aus meiner Sicht zu kurz gesprungen. Ob wir das nun gut finden oder nicht: Wir werden uns der Digitalisierung und dem damit einhergehenden technischen wie soziokulturellen Wandel nicht entziehen können. Unsere Kinder erst recht nicht. Heißt: Sie müssen lernen, damit umzugehen. Und dies möglichst gesund.
Mein Ansatz daher: Bewusstsein schaffen. Zuerst bei uns Eltern und Kinderverantwortlichen. Beispielsweise durch einen Artikel wie diesen. Und dann bei unseren Kids. Nicht maßregelnd. Nicht verurteilend. Nicht dogmatisch. Aber auch nicht devot, resignierend oder gleichgültig. Es ist unsere Hauptverantwortung und „heilige Pflicht“ als Eltern, dafür zu sorgen, dass unsere Kinder reif, beziehungsfähig und „digitalmündig“ werden bzw. bleiben.
Wie das geht, müssen wir unseren Kindern verraten. Im Gegenzug verraten sie uns dann vielleicht, was zum Geier „TikTok“ jetzt schon wieder ist. 😉