Was uns täglich die Freude raubt. Und wie wir sie wieder zurückgewinnen.
Ich komme gerade aus dem Kinderzimmer der beiden Großen. Müde und irgendwie frustriert. Ich hatte den festen Plan, diesen Abend einfach mal für mich zu haben. Hatte mir Pläne gemacht, was ich Schönes machen kann und freute mich darauf.
Nun sah mein Abend ziemlich anders aus. Die letzte Stunde verbrachte ich mit meinem Sohn in einem großen Wutausbruch. Es kam einfach alles raus, wofür am Tag keine Zeit war. Nur leider hatte ich, wie gesagt, andere Pläne. Und genau das war der Punkt.
Enttäuschung ist, wenn die Täuschung geht
Ich war ungeduldig, unfreundlich und wollte einfach nur, dass die Kinder jetzt schlafen und ich meine Ruhe habe. Dadurch konnte – und wollte! – ich nicht sehen, dass ich gerade jetzt gebraucht werde. Hier. Jetzt. In diesem Moment. Irgendwann kam ich dann zu dem Punkt, an dem die Enttäuschung einsetzte. Im wahrsten Sinne: „Ent-Täuschung“. Mir wurde auf einmal bewusst, was es eigentlich war, das mich so auf die Palme brachte. Es waren gar nicht die Launen meiner Kinder (vordergründig ja, aber das war nicht der wahre Kern).
Nicht der Abend war das Problem. Sondern meine tollen Vorstellung ÜBER den Abend, den ich mir in meiner Fantasie doch so ganz anders ausgemalt hatte. Legitimer Wunsch. Vollkommen nachvollziehbar, alles gut. Nur ein Problem: Er war leider nicht real. Er war eine Täuschung, von der mich die Wirklichkeit jetzt „ent-täuschte“.
Und auf einmal begriff ich: Nicht die Umstände oder meine Kinder bestimmen über meine Gefühlswelt. Ich bin es ganz allein selbst. Ich habe die Verantwortung über mein Innenempfinden. Und ich kann es steuern. Durch meine Gedanken.
Gedanklich auf Reisen
Von einem Augenblick auf den anderen wurde die Ent-Täuschung und das Bewusstwerden der Vergeblichkeit meiner „Abendvorstellungen“ zu etwas Befreiendem: Ich konnte meine Gedanken loslassen und den Abend einfach so nehmen, wie er sich mir gerade präsentierte. So wie er „in echt“ war.
In einem Nu entspannte sich alles und ich konnte ganz anders für meinen Sohn da sein. Ich war „präsent“. Das Faszinierende: Mein Sohn schien das zu spüren. Denn ohne, dass sich äußerlich etwas geändert hatte, beruhigte er sich bald und wir konnten über alles sprechen. Ich legte mich dann noch zu ihm mit ins Bett und nach kurzer Zeit schlief er ein.
Und nun liege ich auf dem Sofa und lasse das Erlebte noch einmal Revue passieren. Warum kann ich oft so schwer von meinen Plänen loslassen?
Ich stelle in meinem Leben häufig fest, dass ich mich nur selten im Hier und Jetzt befinde. Zumeist halten sich meine Gedanken an einem Idealbild des Alltags auf, das es so gar nicht gibt – und vermutlich auch nie geben wird. So wie an diesem Abend.
Oder ich befinde mich mental schon in der Zukunft und bin in Gedanken bei einer langen Liste von Dingen, die noch zu erledigen sind. Und bei der man scheinbar nie zum Ende kommt.
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
Vor ein paar Jahren las ich das Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ von Jean Liedloff. In dem Buch schreibt die Autorin von ihrer Zeit, die sie bei den Ye’kuana-Indianern im Dschungel verbrachte, um deren Lebensweise zu studieren.
Sie schreibt davon, dass dieser Stamm erstaunlich glücklich und zufrieden war. Versöhnt mit sich und dem Leben. Nicht „auf dem Sprung“, sondern ganz im Hier und Jetzt.
Unter anderem erwähnt die Autorin auch verschiedene Arbeitssituationen der Ye’kuana-Indianer und beschreibt ihre Beobachtungen.
Beispielsweise erzählt sie von einem Erlebnis, bei dem die Indianer mühselig Kanus durch unwegsames Gelände transportieren mussten. Immer wieder schürften sich einige Indianer bei dieser Aktion die Haut an scharfen Steinen blutig oder verbrannten sich an den durch die Sonne aufgeheizten Felsen. Jedoch schien sie dies keineswegs zu stören.
Es entstand noch nicht einmal das Bedürfnis in ihnen, diese Tätigkeit möglichst schnell hinter sich zu bringen, um DANACH endlich etwas anderem nachgehen zu können oder zu entspannen. Ganz im Gegenteil: Die Autorin war selbst erstaunt darüber, wie viel Freude und Lachen auch bei dieser – in unseren Augen lästigen – Tätigkeit vorhanden war.
It’s just the way it is
Ähnliches schreibt sie auch über ein anderes Erlebnis: Die Frauen der Ye’kuana-Indianer gingen dreimal am Tag zu einer Wasserstelle, um Trinkwasser zu schöpfen. Jean Liedloff fragte sich, warum die Frauen diesen Vorgang nicht effizienter gestalteten und beispielsweise nur einmal am Tag mit einem größeren Gefäß Wasser schöpfen gingen. Als ich das las, erkannte ich mich selbst in ihren Gedanken hundertprozentig wieder: Effizienz! Lästiges schnell hinter sich bringen, um sich dann zu belohnen.
Den Ye’kuana-Indianern jedoch ging es in keiner Weise um Effizienz. Und auch nicht darum, eine Tätigkeit schnell hinter sich zu bringen, „um DANN…“. Die Indianer lebten ganz im Moment und hatten dadurch eine große Erfüllung und Befriedigung in ihrem Tun. Sie leben nicht in einer idealisierten Vorstellung VON der Realität. Sie leben IN der Realität. Und waren mit ihr versöhnt.
Hinzu kommt, dass die Ye’kuana-Indianer den Begriff „Arbeit“ in ihrem Sprachgebrauch nicht hatten. Es gab nicht mal ein ähnliches Wort, was diesen Begriff hätte ersetzen können. Die Tätigkeiten waren nicht aufgeteilt in „Arbeit“ und „Vergnügen“. Für sie gab es einfach schlichtweg nur „das Leben“ – und zwar nur genauso, wie es war, in all seinen Facetten. It’s just the way it is.
Vergnügen ist dann, wenn…
Wie krass anders ist hingegen die Prägung in unseren Breitengraden! Ich erlebe bei mir selbst sowie in unserer Kultur eine ganz klare Trennung zwischen Arbeit und Vergnügen. Vergnügen assoziieren wie landläufig mit Entspannung, Erfüllung, Leichtigkeit und Freude. Arbeit hingegen ist gefühlt eher anstrengend, lästig, das notwendige Übel. Und will schnell erledigt sein, DAMIT… Das Sprichwort kommt nicht von ungefähr: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“
Durch diese Art des Denkens entsteht eine Bewertung bzw. Auf- und Abwertung bestimmter Tätigkeiten. Und die Vorstellung, dass unsere Freude und Erfüllung in einem abstrakten „Vergnügen“ zu finden ist. Also DANN, WENN… wir unsere Arbeit erledigt haben. Und während wir dann dieser Arbeit nachgehen, sind wir innerlich schon genau bei diesem „Dann, wenn“:
„Dann, wenn Feierabend ist…“. „Dann, wenn Wochenende ist…“. „Dann, wenn wir die langen Liste abhaken können…“. Oder eben auch: „Dann, wenn die Kinder abends endlich schlafen…“.
Kinder sind…Arbeit?
Ich entdecke sowohl bei mir selbst als auch in Gesprächen mit anderen Eltern immer wieder dieses „Weltbild“. Auch in Bezug auf die eigenen Kinder. Nämlich die Sicht, dass die „entspannte“ Zeit, die Zeit und der Raum „für MICH“ erst DANN anfängt, WENN die Kinder nicht da sind, für sich spielen oder schlafen. Dann ist Vergnügen. Und wenn das „Dann“ Vergnügen ist: Was sind dann die Kinder?
Mein Erlebnis an diesem Abend führt mir meine Prägung ganz klar vor Augen. Ich wollte das Zu-Bett-bringen der Kinder schnell „erledigen“ (ich benutze den Begriff „erledigen“ hier ganz bewusst, denn genau das war meine innere Haltung), um DANN einer erfüllenden, erholenden Tätigkeit nachzugehen.
Und jetzt mal Hand aufs Herz, liebe Eltern: Wir kennen das doch alle. Immer wieder empfinden wir Tätigkeiten mit unseren Kindern als nervig, lästig oder anstrengend:
Das fünfte Mal das Wasser des ausgeleerten Bechers am Tisch aufwischen. Die wunderbaren, aber schier unendlichen Fragen unserer Kinder beantworten. Das erneute Wickeln, obwohl man gerade eine frische Windel gemacht hatte und nun dringend irgendwo hin will. Und ups: Da klebt ja auch noch Kacka an meiner Bluse… Und das insbesondere in den Momenten, in denen wir im Kopf eine lange Liste an Dingen haben, die heute unbedingt noch erledigt werden müssen.
Und zwischen all diesen vollen Windeln, klirrenden Tellern, schreienden Kindern, klebrigen Fliesen usw. drängt sich in uns die Erkenntnis auf: Ja, Kinder sind toll, und klar: Wir lieben sie. Aber Kinder sind auch und vor allem eins: Arbeit!
Die kulturelle Brille
Ganz klar: Es ist nicht immer einfach mit Kindern. Und ja, das Leben mit Kindern kann auch anstrengend sein – nicht zuletzt durch unsere heutige Gesellschaftsstruktur. Aber wenn wir genauer hinschauen, entdecken wir: Es sind eigentlich nicht die Kinder. Es ist unsere kulturelle Brille. Unsere Bewusstseinsprägung. Unsere duale Weltsicht, die der Situation den gedanklichen Stempel „anstrengend“ verpasst. Und durch eben diese Bewertung die Anstrengung erst so stark für uns erlebbar werden lässt.
Das wurde mir besonders deutlich als wir vor ein paar Wochen Freunde besucht haben und dort genau dieses Thema zur Sprache kam. Der Mann ist Iraner und kennt diese oben beschriebenen Gedanken von uns Deutschen gar nicht.
Er kann in seiner kulturellen Sicht auf das Thema Kinder und Familie nicht nachvollziehen, wie Kinder „anstrengend“ sein können. Die Perspektive, Zeit und Raum „für sich“ zu brauchen, um „ohne die Kinder“ dem „Vergnügen“ nachgehen können, ist ihm fremd. Und erst Recht, Kinder als „Arbeit“ zu empfinden.
Seine familiäre und soziokulturelle Prägung bringt in ihm eine andere Beurteilung hervor. Und damit ein anderes Erleben: Für ihn ist es das größte Glück, Kinder und Familie zu haben. Daher „verpasst“ er nichts, weil er nicht mehr abends um die Häuser ziehen kann, morgens von Kinderlärm geweckt wird oder zum x-ten Mal die Windel wechseln muss.
Glück gibts nur hier und jetzt
Er ist versöhnt damit. Mehr noch: glücklich damit. Für ihn ist einfach klar: Jetzt ist man eine Familie und DARIN habe ich nun meinen Platz und Raum. Und egal, wie anstrengend es vielleicht mit den Kindern sein mag: Das ist jetzt mein Leben, und das gehört einfach dazu und darf sein.
Diese Art des Denkens hat mich in unserem Gespräch sehr berührt. Und ich finde es sehr erstrebenswert, das Leben mit Kindern so zu nehmen. Ich wünsche mir, innerlich immer weniger zu trennen zwischen „lästigen“ Tätigkeiten und „angenehmen“. Ich möchte das Leben so nehmen, wie es kommt. Im Jetzt und Hier sein. Nicht etwas schnell abhaken, und DANN…
Sondern Erfüllung haben in allem, was ich tue. Und sei es, dass ich zum fünften Mal beim Mittagessen den Tisch und Boden wegen eines umgekippten Bechers abwische oder aber den Abend damit zubringe, in dem Frust meines Sohnes ganz für ihn da zu sein.
Ich glaube, solange wir noch zwischen Arbeit und Vergnügen trennen, werden wir es sehr schwer haben, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Und das ist tragisch. Denn nur im Hier und Jetzt ist Befriedigung und Glück zu finden. Denn gestern ist vorbei. Und Morgen nicht real.
Ein Schlüsselerlebnis
Zum Abschluss noch eine kleine Geschichte von uns, die genau von dem Glück im Jetzt spricht: Ich war mit meinen Kindern zu Hause und hatte für den Nachmittag eine dieser besagten langen Listen im Kopf – mit all den Dingen, die noch abzuhaken waren.
So verließen wir vollbepackt das Haus, um uns auf eine große Erledigungstour mit dem Auto zu begeben. Als ich nun so vor unserem Auto stand, bemerkte ich, dass ich die Schlüssel im Haus gelassen hatte. Den Autoschlüssel UND den Wohnungsschlüssel. Mario war auf der Arbeit und würde erst spät am Abend wieder nach Hause kommen.
Im ersten Moment war ich wirklich frustriert und genervt. Aber da mir nichts anderes blieb, als das Leben in diesem Moment „notgedrungen“ so zu nehmen, wie es sich mir hier gerade präsentierte, verbrachte ich den Rest des Tages mit den Kindern draußen.
Und was soll ich euch sagen: Es war einer der schönsten Nachmittage, die wir jemals zusammen hatten. Ich war wesentlich ausgelassener und glücklicher als sonst. Ich war ganz im Hier und Jetzt. Ganz bei meinen Kindern. Denn ich wusste, dass ich keine Möglichkeit hatte, auch nur eines der Dinge von der Liste zu erledigen – also stresste mich auch nichts.
Ganz da sein
Am Abend sagte meine Tochter zu mir: „Mama, das war so ein wunderschöner Tag! Kannst du den Schlüssel jetzt öfter mal drinnen liegen lassen?“
Auch meine Kinder haben also einen deutlichen Unterschied gemerkt. Denn unsere Kinder sind in der Regel noch viel mehr im Jetzt und Hier. Und sie spüren, wenn wir uns in der gleichen Dimension befinden. Bei ihnen. Mit ihnen. Mental voll da. Interessiert. Achtsam, Wach. Und nicht nur körperlich anwesend, aber innerlich „irgendwo anders“. Das ist ein himmelweiter – und offensichtlich spürbarer – Unterschied. Und überlebt haben wir als Familie die ausgebliebene ach so wichtige Erledigungstour übrigens auch (Scheint wohl überbewertet zu werden…;)
Also, mein Tipp des Tages an alle Eltern: Sperrt euch hin und wieder mal aus eurem eigenen Haus aus. Und dann genießt das befreiende Ohnmachtsgefühl im Hier und Jetzt.
Mit euren Kindern. Aber Vorsicht: Es könnte zum Vergnügen ausarten. 😉