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Hilfe, mein Kind ist nicht DIN-Norm

Hilfe, mein Kind ist nicht DIN-Norm

Bild Blogartikel Wie Kinder sich von ganz alleine richtig entwickeln. Und warum Eltern sich entspannen können. Und sollten.

Wie Kinder sich von ganz alleine richtig entwickeln. Und warum Eltern sich entspannen können. Und sollten.


Kennt ihr das auch: Wenn man als Mutter oder Vater mit seinem Kleinkind in eine Krabbelgruppe oder auf einen Spielplatz geht, landet man mit anderen Eltern ganz schnell beim Thema, was das eigene Kind schon kann oder was nicht. 

„Kann dein Kind auch schon XYZ?“


„Mein Kind schläft schon durch, seit es drei Monate ist.“ „Mein Kind läuft jetzt schon seit über zwei Wochen, obwohl es nicht mal 11 Monate ist.“ „Mein Kind kann schon greifen und dreht sich schon auf den Bauch und zurück.“ „Echt? Meins dreht sich noch nicht mal auf den Bauch. Und wenn ich es auf den Bauch drehe, beginnt es sofort zu weinen.“

Auch wenn wir prinzipiell entspannt sind, was die Entwicklung unseres Kindes angeht, kommt man dennoch häufig im Gespräch auf diese Punkte zu sprechen. Denn so sind wir in Deutschland geprägt. So versuchen wir, in Kontakt zu treten. Das gilt auch bei der Kontaktaufnahme unter Erwachsenen. Auch hier fragen wir indirekt unser Können ab, nämlich mit der Frage: „Was arbeitest du?“ Auf dem Spielplatz oder in der Krabbelgruppe geht es dann eben um unsere Kinder – zumindest meinen wir das.

Der Vergleichswettkampf


Wir haben oft ganz klare Vorstellungen über die Zeitpunkte, wann unser Kind was können müsste oder sollte: Laufen mit einem Jahr. Sprechen mit zwei. Lesen und Schreiben am besten schon vor der Schule und so weiter. Wenn unser Kind nicht der gesellschaftlichen „Norm“ entspricht, fangen wir an, uns Gedanken und Sorgen zu machen. Dann überlegen wir, was wir tun könnten, um die Entwicklung unseres Kindes weiter voranzutreiben.

In der Regel ist oft der Vergleich mit anderen der Auslöser für unsere Sorgen. Wenn unser Kind das Einzige in der Krabbelgruppe ist, das noch nicht läuft, obwohl es vielleicht sogar das Älteste ist, kann doch irgendetwas nicht stimmen. Wir fühlen uns schlecht und haben irgendwie das Gefühl, mithalten zu müssen. Oftmals suchen wir dann unbewusst nach anderen Dingen, in dem unser Kind den anderen voraus ist.

Ohne es zu merken, befinden wir uns mitten in einem „Wettkampf“. Und dabei geht es in Wirklichkeit nicht um unser Kind. Es geht um uns selbst.  

Kannste was, biste was


In unserer leistungsgeprägten Gesellschaft, die von Wettbewerb, Vergleich und Konkurrenz geprägt ist, laufen viele von uns in eine Falle. Nicht selten setzen wir die körperliche Entwicklung und Fortschritte unseres Kindes mit unserer Qualität als Eltern gleich. Mehr noch: Wir definieren unseren Wert und unseren gesellschaftlichen Status darüber. 

Wenn unser Kind in den Entwicklungsschritten nicht ganz vorne mitspielt – oder zumindest in einem guten Normbereich – dann sagt das was über uns und unseren Wert aus. Diese Art von Leistungsbewertung haben wir ja schon von früh auf gelernt in Schule und Co.: Kannste was, biste was.

Unter Druck


Wenn wir auch in vielen Lebensbereichen an diese Leistungsbewertung gewöhnt sein mögen: In Bezug auf die Entwicklung unserer Kinder ist sie fatal. Denn Sie setzt nicht nur uns unter Druck, und lässt uns mitunter falsche oder überstürzte Entscheidungen treffen. 

Auch unsere Kinder spüren intuitiv unsere Unruhe und die auf sie projizierten Erwartungen. Und da Kinder immer mit uns Kooperieren wollen, versuchen sie unbewusst, diesen (äußeren) Erwartungen gerecht zu werden. Da dieser Impuls aber nicht von innen, aus ihnen selbst kommt, sondern von außen, löst dies Unruhe und Stress aus. 

Und somit gelangen die Kinder ebenso wie wir aus ihrem inneren Gleichgewicht und der natürlichen Ruhe. Aber genau diese innere Ruhe ist es, die die Basis für gesundes Wachstum bildet.

In der Ruhe liegt die (Wachstums-)Kraft


Vorab: Im Folgenden lege ich den Fokus ganz bewusst und ausschließlich auf die körperliche Entwicklung des Kindes. Die emotionale Entwicklung und die menschliche Potenzialentfaltung ist etwas komplexer in Bezug auf unsere Verantwortung als Eltern. Und würde den an dieser Stelle Rahmen sprengen. (Wen das Thema tiefer interessiert, findet dazu mehr in unseren kostenlosen Webinaren sowie unserem BASISKURS).

Ebenso wie auf die emotionale und soziale Entwicklung, haben wir auch auf die körperliche Entwicklung unseres Kindes einen großen Einfluss und tragen somit eine aktive Verantwortung. Doch dabei geht es im Kern NICHT um unser (Dazu-)Tun.

Es geht vielmehr um unser „Lassen“: das Kind SEIN lassen. Und ihm Raum geben für die ganz eigene Exploration, Entdeckung und Kreativität. Unsere Aufgabe als Eltern liegt darin, diesen Raum aktiv zu ermöglichen und uns zurück zu nehmen.

Pflanzen wachsen nicht schneller, wenn man an ihnen zieht


Im Bild gesprochen, ist unser Kind eine Pflanze, die ganz spontan und von alleine wächst. Es hilft nicht, an der Pflanze zu ziehen, damit sie schneller wächst. Ganz im Gegenteil: Es stört sogar das natürliche Wachstum.

Und genau so ist es bei unseren Kindern auch. Ihre körperliche Entwicklung geschieht spontan und ganz von selbst. Und im eigens genau richtigen Tempo. Wie wunderbar! Wenn wir diesen Gedanken einmal zulassen, könnte das große Entspannung in uns auslösen.

Ich weiß nicht, wie es bei euch ist. Aber ich bin noch keinem Erwachsenen begegnet, der noch krabbelte oder robbte (außer vielleicht an Fasnacht ;). Auch keinem, der noch nicht trocken war oder noch gestillt werden musste. Egal ob unser Kind mit 10 Monaten oder mit 20 Monaten läuft, es wird irgendwann laufen. Und genau so ist es mit allen anderen Dingen auch. 

Übrigens ein kleiner fun fact: Das durchschnittliche Laufalter liegt nicht bei unter 12 Monaten, sondern bei 14 Monaten! Wer hätte das gedacht?! 

Unser Kind ist einfach erstmal richtig

Jedes Kind hat sein eigenes Tempo und entwickelt sich ganz einzigartig. Die verschiedenen Entwicklungsstadien treten von Kind zu Kind in verschiedenem Alter auf. Und auch die Art und Weise der motorischen Entwicklung ist sehr vielfältig. Und das ist gut so!

Die gute Nachricht ist also: Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Unser Kind ist einfach erst mal richtig. Es ist nicht besonders langsam oder besonders schnell oder aber besonders normal. Nein, es ist einzigartig. Und es wird genau wie alle anderen auch laufen, sprechen, schlafen und alleine essen können.

Wann genau das sein wird, entscheidet keine DIN-Norm, sondern die biologische Uhr des Kindes ganz allein.

Was wir tun sollten, und was besser nicht


Aber was ist nun unsere Verantwortung dabei? Und was bedeutet das „Lassen“ ganz praktisch?

In dem Erwarten des nächsten Entwicklungsschritts und unter dem Druck mithalten zu wollen, greifen wir Eltern oft der natürlichen motorischen Entwicklung des Kindes vor. Uns fehlt häufig die Geduld, abzuwarten. Und so animieren wir unser Kind dazu, Dinge zu tun, die es von selbst noch nicht tun würde.

Ein sehr verbreitetes Beispiel ist, dass wir das Kind hinsetzen, bevor es sich selbst aufsetzt. Ich sehe immer wieder Kinder, die, bevor sie sitzen können, in einem Hochstuhl mit am Tisch sitzen. In der Regel sitzen sie dort schlaff, mit gekrümmtem Rücken und lehnen sich seitwärts an. Ein Kind, welches sich bereits selbst aufsetzt, sitzt niemals gekrümmt und braucht auch keine Stütze, sondern es sitzt aufrecht mit gradem Rücken. 

Die meisten Eltern setzen ihr Kind bereits früher hin, weil sie es teilhaben lassen wollen am Familientisch. Oder weil es dort zufriedener ist. Demnach wird angenommen, dass das Kind das auch will. Und dem möchte man als Eltern natürlich nachkommen.

Alles zu seiner Zeit


Diese Gedanken kann ich verstehen, doch leider wissen die meisten nicht, dass sie ihrem Kind damit schaden. Der Körper des Kindes ist sich noch stark am entwickeln. Wenn wir der motorischen Entwicklung in einer solchen Art vorgreifen, können sich Fehlhaltungen festsetzen. Denn der Körper, die Muskulatur und das Knochensystem sind noch nicht reif für das Sitzen. Wenn sie reif dafür sind, wird sich das Kind selber aufsetzen.

Das Gleiche gilt auch für das Stehen und Gehen. Mittlerweile gibt es immer mehr Spielzeuge, die dem Kind „helfen“ zu laufen, wie beispielsweise der Lauflernwagen. Doch auch das freie Laufen und das freie Stehen sollte das Kind in seinem Tempo erlernen. Denn dann ist sein Körper bereit dafür. Hinzu kommt, dass das Kind, welches sich beim Laufenlernen aufstützt oder an den Händen geführt wird, nicht lernt, richtig zu fallen. 

Wenn es das Gleichgewicht verliert, sucht es oben nach Halt, anstatt die Hände instinktiv nach unten zu führen, um den Aufprall zu vermindern. Ein Kind, das ohne Hilfe Laufen lernt ist sehr sicher und stabil darin. Tatsächlich stürzt es seltener. Und wenn es stürzt, verletzt es sich nicht so stark.

Die Kunst, „Nein“ zu sagen


Im Zusammenhang mit diesen Thema höre ich immer wieder von Eltern: „Aber mein Kind will ja schon sitzen oder es will so gerne laufen. Da kann ich doch nicht ‚Nein‘ sagen.“ Und ja, das stimmt. Das Kind ist begeistert, wenn es laufen kann oder wenn es sitzt. Ist ja auch klar: 

Jedes Kind hat den instinktiven Drang, sich weiter zu entwicklen. Und jeder nächste Schritt ist etwas besonderes und will ausprobiert werden. Zudem erlebt das Kind, dass es uns ähnlicher wird. Das ist sein großes Ziel: endlich sein wie Mama und Papa oder der große Bruder. 

Trotzdem können und sollten wir aus den genannten Gründen „Nein“ sagen. Auch, wenn es manchmal schwer ist, das auszuhalten. Es kann für ein Kind manchmal sehr frustrierend sein, wenn es etwas noch nicht schafft. 

Aber wir helfen ihm nicht, indem wir dem vorgreifen und es für das Kind „klappen lassen“. Denn dann berauben wir ihm einer großen Freude: Das Erleben, es nach langem, sehnsüchtigem Probieren, endlich selbst geschafft zu haben. Es gibt kaum etwas Schöneres und Erfüllenderes für die Kinderseele. Klar, Scheitern ist erstmal doof. Aber daran kann sich das Kind adaptieren, darüber weinen. Auch eine sehr kostbare Erfahrung.

Und dann, dann wird es andere Wege ausprobieren. Oder es zu einem späteren Zeitpunkt nochmals versuchen, solange, bis….es endlich klappt!

Engel des Trostes


Vor ein paar Tagen habe ich genau das mit unserer Jüngsten wieder einmal beobachten dürfen. Seit einiger Zeit zieht sie sich an Gegenständen ins Stehen hoch. Nun versuchte sie gerade, sich an einem Koffer hoch zu ziehen. Leider bewegte sich der Koffer immer wieder weg, da er Rollen hat. Oh, das frustrierte unsere Tochter sehr. Sie versuchte es immer wieder und weinte dann jedes Mal bitterlich, wenn es wieder nicht klappte. 

Ich setzte mich dann zu ihr und begleitete sie darin, indem ich ihr mit Worten spiegelte, was sie gerade erlebte. Ich drückte meine Anteilnahme aus, emotional wie verbal. Und teile ihr Leid als „Engel des Trostes“. 

Ich merkte aber ebenso, wie ich innerlich auch die Neigung verspürte ,den Koffer festzuhalten, damit es für sie klappt und sie nicht mehr weinen muss. Doch ich konnte mich zurückhalten.

Echtes Lernen beginnt mit dem Scheitern


Und nach kurzer Zeit passierte etwas Spannendes: Unsere Tochter beruhigte sich nach dem Scheitern des letzten Versuches und begann, die Rollen des Koffers zu untersuchen. Man konnte förmlich sehen, wie sie einen Zusammenhang herstellte zwischen ihren gescheiterten Versuchen und den Rollen. 

Nach ausgiebiger Begutachtung zog sie glücklich und zufrieden von dannen. Wie schön! Sie hatte etwas „gelernt“. Ein physikalisches Phänomen, um genau zu sein. Und es war kein Kopfwissen, sondern ein Ergreifen mit dem ganzen Wesen. Und es fing mit dem Scheitern an.

Es gäbe an dieser Stelle noch einiges zu sagen. Doch vor allem anderen liegt es mir sehr am Herzen, dass wir Eltern das hören und verstehen. Und uns frei machen von jeglichem Druck, der von außen oder aber von innen her entsteht. 

Unser Kind entwickelt sich genau so, wie es für es gut ist. Spontan und von allein. Das müssen wir nicht hervorbringen. Unsere Aufgabe ist es lediglich, dieser Eigenentwicklung den angemessenen, liebevollen Raum zu verleihen.

Wir dürfen unseren Kindern Zeit geben – und uns auch


Unser Körper und die motorische Entwicklung von uns Menschen ist wirklich genial und absolut aufeinander abgestimmt. Demnach dürfen wir uns als Eltern entspannen und mehr der Natur unserer Kinder vertrauen. 

Wir dürfen unseren Kindern Zeit geben und uns überraschen lassen von der Art und Weise, wie und wann sich welcher nächster Schritt entwickeln wird. Und tatsächlich kann es eine sehr große Freude sein, das zu beobachten . Und zu erleben, wie unser Kind aus sich heraus so Wunderbares und Enormes lernt.

Wer Interesse hat, sich noch weiter in diese Thematik einzulesen, dem empfehle ich das Buch „Babyjahre“ von dem erfahrenen Kinderarzt Remo Largo sowie das Buch „Friedliche Babys – zufriedene Mütter“ von Emmi Pikler. In beiden Büchern findet man breites Fachwissen zur motorischen Entwicklung des Kindes. Und beide zeigen die wunderbare Vielfalt der unterschiedlichen Entwicklung auf.

In diesem Sinne: Viel Entwicklungsfreude!

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Anne
Motzkuhn
Anne ist dreifache Mutter, qualifizierte Tagespflegeperson und im bindungsorientierten Entwicklungsansatz des kanadischen Entwicklungspsychologen und Bindungsforschers Prof. Dr. Gordon Neufeld geschult. Durch ihr Engagement in einem gemeinnützigen Schulungszentrum hat sie langjährige Erfahrung in der Jugend- und Seminararbeit. Neben ihrem „Job“ als Mama ist Anne fortwährend dabei, ihr Erfahrungswissen zu vertiefen und zu erweitern – ob durch den Besuch von Fortbildungen, Pikler-Spielgruppen usw. oder durch diverse Seminare oder Bücher. Mit den eigenen sowie den anvertrauten Pflegekindern befindet sich Anne im täglichen „Liveabgleich" von Theorie und Praxis.