Warum wir mehr feiern sollten. Oder: Das größte Weihnachtsgeschenk.
Wir haben in unserer Familie ein „uraltes“ Ritual. Über Weihnachten packen wir die halbe Wohnung ins Auto, Oma auch (falls die Kids nicht lieber mit ihr Zug fahren wollen), und fahren in den Norden in unser „Weihnachtshaus“, eine kleine angemietete Hütte am Waldrand in der Lüneburger Heide. Eigentlich ist dieses Ritual noch gar nicht so alt. Ehrlich gesagt haben wir es letztes Jahr zum ersten Mal gemacht. Aber seither steht fest: Das machen wir jetzt jedes Jahr. Und kaum ist März, fangen unsere Kinder an, in regelmäßigen Abständen: „Wann fahren wir endlich wieder in UNSERE Weihnachtshütte?“
Sie freuen sich schon das ganze Jahr auf die Zugfahrt mit Oma. Den Matscheweg vom Parkplatz zum Haus. Auf den kleinen Specksteinkamin. Die riesige Kiste mit dem Playmobil und dem megagroßen Piratenschiff. Auf das gemeinsame Schmücken des Tannenbaums mit den Holzäpfeln und den gemeinsam selbstgebackenen Lebkuchen. Den Besuch von Opa, Oma, den Tanten und Cousinen. Den Hund im Nachbarhaus, das Brennholzholen aus dem – irgendwie ein bisschen gruseligen – Keller. Die gemeinsamen Spieleabende, die obligatorische Rolf-Zuckowski-Weihnachts-DVD (aus dem „Erbe“ von Mama, danke dafür ;)) und na klar: auf die Geschenke.
(Ich weiß, ich weiß, das klingt alles nach ner schrecklich klischeehaft-kitschigen Nummer, irgendwo zwischen Kinder aus Bullerbü und Familie Griswold. Aber ich muss gestehen: Irgendwie lieben wir das. Aber nur einmal im Jahr. An Weihnachten.)
Was ist das Schönste an Weihnachten? Außer Geschenke?
Als ich meine sechsjährige (fast sieben, darauf besteht sie!) Tochter fragte: „Angenommen, es gäbe keine Geschenke. Auf was würdest du dich dann an Weihnachten am meisten freuen?“, antwortete sie: „Auf die Gans.“ Das überraschte mich, denn so viel und gern isst sie Gans dann eigentlich gar nicht. Aber dann dämmerte es mir, was sie eigentlich meinte: das Ritual.
Wenn Oma mit den Kindern die Klöße rollt und sie mir beim Einsalzen der Gans zusehen. Insbesondere der legendäre, faszinierend-ekelige Moment, wenn ich mit meiner Hand IN die Gans hineinfasse – iiieeh! Dann das stundenlange Warten, während der Wecker alle 20 Minuten klingelt und daran erinnert, dass die Gans im Ofen begossen werden will. Ich bin mir sicher: Dieses gemütliche, familiäre, geborgene Gefühl der Weihnachtsroutine ist es, was für sie das Gänseerlebnis so besonders macht. Und warum es „immer“ in die Weihnachtshütte gehen muss. Und warum erst alle Kerzen am Baum brennen müssen und Mama auf jeden Fall die Glocke läuten muss, bevor es Bescherung gibt. So ist es richtig. So muss es sein. Das ist das Ritual.
Der Schatz von Ritualen
Kinder lieben Rituale. Ja, jeder, der schon einmal mit kleineren Kindern zu tun hatte, kann bestätigen: Kinder sind echte Regelfreaks. „Nein, Papa, erst die Schuhe ausziehen.“, „Mama macht das aber immer anders.“, „Wir haben noch gar kein Buch gelesen, wir können noch nicht ins Bett gehen.“ usw. Warum ist das so?
Rituale geben Kindern Sicherheit und Orientierung. Jeder Tag steckt voller Neuigkeiten. Jeden Tag gibt es etwas Spannendes zu lernen, zu entdecken und auszuprobieren: neue Menschen, neue Gesichter, neue Situationen in einer unüberschaubar großen Welt. Da geben immer wiederkehrende Routinen einen enormen Halt. Sie sind der sichere Hafen, in dem sich die kleinen Speedboote sammeln, zurückziehen und in Sicherheit wiegen können. Um dann umso entschlossener zu unbekannten Ufern aufzubrechen.
Unter Pädagog*innen sagt man, der Raum (in der Kita, im Kindergarten usw.) sei der „dritte Erzieher“. Ebenso kann man sagen: Rituale sind wie das „dritte Elternteil“. Genau wie Mama und Papa geben sie Geborgenheit, spenden Vertrauen, verleihen Selbstbewusstsein und das gute Gefühl, das Leben verstehen und meistern zu können. Nicht selbst entscheiden zu müssen, was gut, böse, richtig, falsch, dran oder nicht dran ist. Im Schatten gewohnter Abläufe können sie zur Ruhe kommen, sind Teil von etwas, was größer ist als sie selbst. Sogar größer als der ältere Bruder, als Mama und Papa oder die Erzieher*innen im Kindergarten. Eine „ewige Ordnung“, die eint und eine Art kollektive Identität gibt: „So machen wir das hier bei uns.“
Und je mehr Menschen bei dieser ewigen Ordnung mitmachen, desto mehr Gemeinschaft und Identität stiftet sie.
Die ewige Ordnung schwindet
Genau aus diesem Grund ist Weihnachten so kostbar. Weil es eines der wenigen Feste ist, das bei uns noch einen festen Bestand hat. Und dadurch einen kleinen Teil unserer Gemeinschaftskultur repräsentiert. Die geht in unseren Breitengraden leider immer mehr verloren. Es gibt immer wenige Feste, kulturelle Tänze oder Lieder, die seit Generationen weitergegeben werden und die auch wir heute an unsere Kinder weitergeben. Seit der Industrialisierung und dem damit verbundenen technischen Fortschritt ist unsere Welt immer schnelllebiger geworden.
Die Globalisierung und die digitale Transformation haben diesen Trend in nie dagewesenem Maße beschleunigt. Nationale, zeitliche und räumliche Begrenzungen lösen sich auf. Im Angesicht globaler Vernetzung und gleichzeitig zunehmender Individualisierung schwinden Traditionen und kulturelle Überlieferungen zunehmend dahin. Jeder definiert sich über etwas anderes und entscheidet für sich selbst, an was er glaubt, wie er lebt, was er feiert und was nicht. Dies ist zwar höchst individuell, entbehrt aber eben gerade dadurch diese starke, verbindende gemeinschaftliche Verwurzelung.
Teil von etwas Größerem
Doch nicht nur unseren Kindern, sondern auch uns gibt es unglaublichen Halt und ein Gefühl der Zugehörigkeit, in etwas Größeres eingebunden zu sein, das nicht erst mit uns begonnen hat. Was keineswegs heißt, dass eine Kultur sich nicht weiterentwickeln darf. Das muss sie tun. Das hat sie immer getan. Aber weiterentwickeln heißt eben, etwas „weiter“ zu „entwickeln“, und nicht komplett neu erfinden zu müssen.
Doch es gibt noch einen weiteren Schatz, den die Kulturvermittlung mit sich bringt: Sie erhält die natürliche, „gute hierarchische“ Ordnung innerhalb einer Familie. Und hilft uns als Erwachsene, die für eine gesunde Reifeentwicklung essenzielle positive Alpharolle inne zu haben. Und zu bewahren. Wir sind dann diejenigen, die unserem Kind feste Bestandteile geben, an denen es sich orientieren kann. Genau das fördert die ursprünglichen Bindungsinstinkte des Kindes. Denn Kinder sind darauf ausgelegt, ihren Orientierungspunkt bei uns als fürsorgliche Erwachsene zu haben. Und sich eben nicht den eigenen Wertepfad durch den undurchschaubaren Dschungel einer komplexen Welt bahnen zu müssen.
Das wahre Weihnachtsgeschenk.
Für uns ist dies das wahre „Weihnachtsgeschenk“, jenseits von Konsum, geheuchelter Nächstenliebe und Selfies unterm Weihnachtsbaum: das traditionelle gemeinsame Erleben einer besonderen Zeit.
Und das muss nicht mit Weihnachten enden. So haben wir in unserer Familie angefangen, neben den täglichen Alltagsritualen (gemeinsame Essenszeiten, Gute-Nacht-Geschichte etc.) ganz bewusst mehr wiederkehrende Jahresfeste zu feiern. Beispielsweise das Erntedankfest. An einem solchen Fest gibt es dann bei uns immer dasselbe Essen. Die gleichen Lieder. Vielleicht ein passendes Gedicht oder eine Geschichte, die über den Ursprung des Festes berichtet. Und alle sind darin eingebunden und finden ihren persönlichen Platz und Ausdruck.
Wir merken: Solche Rituale lassen uns als Familie näher zusammenrücken. Sie spenden dieses wohlige „Wir-Gefühl“ und geben uns die Möglichkeit, unseren Kindern auf entspannte und freudige Art unsere Familienwerte zu vermitteln. Und immer wieder mit ihnen weiterzuentwickeln.
Was sind eure Erfahrungen? Welche Feste und Feiern sind für euch besonders wertvoll? Welche Rituale habt ihr in eurer Familie, die euch kostbar sind?
Wir freuen uns von euch zu lesen. Und wünschen euch schon einmal fröhliches Vorfeiern! ☺
Und wer sich noch weitere wertvolle Tipps und Impulse für eine stressfreie und schöne Weihnachtszeit wünscht, kann gern mal hier in den Artikel von StarkeKids reinlesen.